Im Perlflußdelta

Krimskrams für die Märkte der Welt





1. Der größte Ballungsraum der Erde


2. Auf den Märkten Guangzhous


3. Markttag in Guangzhou 1996


4. Kaiping und Chikan


5. Macao




1. Der  größte Ballungsraum der Erde


Es gibt Reisen, deren Eindrücke wirken noch jahrelang nach. Eindrücke, so intensiv, daß sie die eigene, bisherige Erfahrungswelt auf den Kopf stellen und neue Perspektiven öffnen.

Mich erwischte es, als ich 1996 das erste Mal nach Guangzhou, das frühere Kanton, flog. Die Öffnung des Landes war in vollem Gange und das Perlflußdelta eines der chinesischen Tore zur Welt. Zwar hatte ich in Shanghai schon meine ersten Lektionen gelernt, doch was ich im Perlflußdelta sah, traf mich wie ein rechter Crosspunch von Muhammad Ali: Unvorbereitet, mit voller Wucht und mitten in die Visage.
Denn Guangzhou war heiß, schwül und wild. Auf den Märkten wurden Katzen geschlachtet und Schildkröten ausgeweidet. Bis tief in die Nacht tobte das Leben auf der Straße, Wäsche waschen und Fußnägel schneiden inclusive. Die Gerüche aus den Woks der Garküchen zogen durch die engen Gassen, Ingwer, Knoblauch und weiß Gott was sonst noch alles. In der Lobby unseres Hotels hingen die Porträts von Zhou En Lai und Richard Nixon, in Schwarz/Weiß und im Original von 1972.

Das war damals der kick-off für die rasante Entwicklung als globale Werkbank. Millionen Binnenmigranten formten aus dem Delta den größten Ballungsraum der Welt, 120 Millionen Menschen auf einer Fläche kleiner als die des Bundeslandes Hessen, eine enorme Herausforderung für Verwaltung und Infrastruktur.

Das Perlflußdelta heute ist zahmer, geordneter und ja, auch langweiliger als vor 25 Jahren. Trotzdem hat es einen Charakter konserviert, der es von anderen Regionen Chinas unterscheidet. Handel ist immer noch die wichtigste Branche hier und der Geschäftssinn der Bewohner sprichwörtlich.

Aber Schlangen und Bärentatzen sucht man heute vergebens auf den Märkten, doch viel zu sehen gibt es immer noch. Lassen sie sich von meinen Reportagen inspirieren!





Kein Platz mehr für Felder und kleine Dörfer im Perlflußdelta
Schnappschuß aus Shenzhen



2. Auf den Märkten Guangzhous


Autos aus Changchun, Stahl aus Baotou, Kohle aus Taiyuan. In Shanghai die Banken und in Beijing die Politik. Im Perlflußdelta aber dominiert die Produktion von Konsumgütern. Viele davon findet man in den Geschäften und Märkten Guangzhous, die als Anlaufpunkte für Einkäufer globaler Ketten dienen.
Gehandelt wird mit allem, was abzusetzen ist. So grinsten mir, als ich im frühen Sommer durch die Innenstadt schlenderte, aus den Spielzeugläden Frankensteinmasken entgegen. Es war die aktuelle Kollektion für Halloween, das dann einige Monate später anstand.

Mit steigenden Arbeitskosten in China allerdings wandert personalintensive Produktion in andere Länder ab, nach Vietnam und Bangladesh zum Beispiel. Verlierer dieses klassischen kapitalistischen Mechanismusses sind die abermillionen Wanderarbeiter aus den unterentwickelten Binnenprovinzen Chinas, die nun sehen müssen, wo sie bleiben.

Guangzhou ist auch ein Zentrum für den Handel mit Produkten der traditionellen chinesischen Medizin. Zwar werden heute -zumindest über der Theke- keine Tigerknochen und Pandakrallen mehr angeboten, dafür aber allerlei andere Mixturen, angefangen von getrockneten Seesternen bis hin zu pulverisierten Baumpilzen.

Auch „Chocolate City“ ist einer der speziellen Märkte Guangzhous. Anders als zu vermuten wäre, bezieht sich der Name ein klein wenig despektierlich auf die Kundschaft dieses Marktes, auf die schwarzafrikanische Community des Perlflußdeltas. Man wähnt sich dann auch eher in Lagos denn in Ostasien: Werbeschilder für afrikanisches Essen, allerlei evangelikal-religiöser Schnickschnack in den Auslagen und atemberaubende African Beauties, die mit durchgedrücktem Rücken und raffinierten Wickelkleidern auf dem holprigen Bürgersteig Guangzhous den Catwalk zelebrieren.

Die Märkte Guangzhous sind eine Klasse für sich und ein Beispiel für das, was verloren gehen kann, wenn nur noch anonym im Internet gehandelt und der Kram dann durch Boten nach Hause geliefert wird: Urbanität, soziale Interaktion und eine ganze Menge Spaß!




Zielgruppe: Die Kundschaft aus Afrika



Traditionelle chinesische Medizin hat immer noch einen
hohen Akzeptanzgrad



Für die Harten: Getrocknete Seesterne. Es gibt noch ganz andere Dinge zu kaufen



3. Markttag in Guangzhou 1996


Bilder aus einer anderen Zeit: Kartoffeln wurden in verzinkten Blecheimern auf Waagen abgemessen, auf denen gußeisernen Gegengewichte die Balance herstellten. Zusammen mit meinem Großvater sammelte ich übriggebliebene Salatblätter für unsere Hühner zu Hause: Dienstags und samstags wurde Markt abgehalten in meiner Heimatstadt. Ein Riesenereignis war das immer und die Innenstadt platzte aus allen Nähten.

25 Jahre später und tausende Kilometer weiter im Osten erinnerte ich mich ansatzweise an diese Szenerie, auf dem Markt in Guangzhou. Ein Besuch dort bediente noch 1996 alle Klischees und stieß Tierfreunde in tiefe Depressionen. Denn keine Kartoffeln und Salatblätter gab es dort, dafür aber frischgeschlachtete Schildkröten aller Größen neben getrockneten Hirschpenissen, die als Aphrodisiakum verkauft wurden. In Käfigen miauten Katzen, die dann auf dem Sonntagstisch landeten. Die getrockneten Kakerlaken für die Suppe gehörten noch zu den harmloseren Auslagen.

Den Markt in Guangzhou gibt es heute noch, doch ist er nur ein Schatten des früheren. Alles Wilde und Archaische ist Plastikverpackungen mit Angaben zum Kaloriengehalt gewichen. Die Tiere freut`s.

Und auch der Markt in Rüsselsheim ist mittlerweile nur noch ein müder Abklatsch dessen, was ich aus meiner Kindheit kannte. Dafür haben Supermärkte und Fast Food schon gesorgt. Alte Salatblätter werden ohnehin nicht mehr gebraucht, denn die Hühnerställe verschwanden zusammen mit den Nutzgärten aus den alten Arbeiterhäusern. Dafür gibt es heute dort handtuchgroße, vermooste Rasenflächen. Den Spießbürger freut´s.





Weiße Katzen gehen am besten



So richtig viel hat sich nicht verändert an den Auslagen der Heilmittelhändler



Aale in allen Größen sind eine Spezialität der Kantonküche


... und die Enten erst! Die Schnäbel werden mitgekocht



4.  Kaiping und Chikan


Die chinesische Mauer? Weltbekannt. Die Terracottaarmee? Kennt auch jeder. Doch die Diaolous, die befestigten Wohntürme von Kaiping? Weitgehend unbekannt, auch in China selbst.
Dabei sind diese Bauten so einmalig, daß sie dem Vergleich mit bekannteren touristischen Hotspots mühelos standhalten.

Nach den Opiumkriegen Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das chinesische Kaiserreich gezwungen, seine Abschottungspolitik aufzugeben. Besonders aus dem damals armen, übervölkerten und ausschließlich landwirtschaftlich geprägten Perlflußdelta wanderten hunderttausende Menschen aus; nach USA und ins kolonial geprägte Südostasien. So erbärmlich die Arbeitsbedingungen dort auch waren, es wurde Geld verdient. Gesundheit für Lohn und Brot - das frühkapitalistische Tauschgeschäft.

Manche der Auswanderer kehrten nach Jahren zurück, andere blieben und schickten Geld an ihre Clans daheim in Kaiping. Es war eine Zeit der politischen Instabilität in China. Das Kaiserreich war korrupt und schwach, die europäischen Mächte bauten ihren Einfluß in den Küstenstädten aus und die Provinz wurde von brutalen Warlords regiert. Im Süden tobte in dieser Periode der Taiping-Aufstand, das Faustrecht herrschte und plündernde Verbrecherbanden suchten die Dörfer heim.

In diesen Wirren nun mußten sich die durch das Auslandsgeld wohlhabend gewordenen Clans schützen, und die befestigten Wohntürme entstanden. Ihre Architektur ist immer gleich: Ein mehrere Stockwerke hoher Turm mit quadratischem Grundriß und gleichmäßig angeordneten Fensterreihen. Gekrönt wird diese Basis von einem auskragenden, aufwendig verziertem Aufbau. Dabei kamen architektonische Stilelemente zum Einsatz, die die Auslandschinesen in der westlich geprägten Fremde kennenlernten: Barocke Stützelemente, griechische Säulen, stellenweise Jugendstilverzierungen. Baustoff der Diaolous war Stahlbeton, die Fenster mit eisernen Läden bewehrt.

Seit einigen Jahren rückt der kulturelle Wert dieser Bauten ins Bewußtsein und eine touristische Erschließung findet statt. Behutsam, denn der kommunistischen Zentralregierung ist die Reminiszenz an die westliche Kultur trotz allem suspekt.  Ritterschlag war dann die Aufnahme der Bauten in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes vor kurzem. Trotzdem werden die Diaolous von Kaiping in den allermeisten Reiseführern noch nicht erwähnt.

Ein Besuch mittels Mietwagen läßt sich über die Traveldesks der großen Hotels in Guangzhou mühelos organisieren. Ctrip bietet geführte Touren an, ebenfalls von Guangzhou aus. Diese Touren fahren Zili bei Kaiping mit seinen Diaolous und dem einmaligen dörflichen Charakter an, sowie die Kleinstadt Chikan mit seiner europäisch anmutenden Uferpromenade.
Einen Tag muß man veranschlagen, ist aber auch völlig ausreichend. Der Raum Kaiping liegt etwa 120 km südwestlich von Guangzhou.





Die eindrucksvollen Wohntürme in Kaiping sind eine Melange aus chinesischen und europäischen Stilelementen


Häuserfassade in Chikan, Südchina - und nicht etwa Südfrankreich




5.  Macao


Noch gar nicht so lange ist es her, daß Portugal eines der letzten europäischen Kolonialreiche verwaltete, in denen die Sonne nie unterging: Mozambique und Angola in Afrika, Goa in Indien, Timor in der südostasiatischen Inselwelt – und eben Macao an der Einfahrt zum Perlflußdelta.

Weitgehend vergessen von der Administration in Lissabon fristete die Kolonie ihr Dasein stets im Schatten des gegenüber liegenden Hongkongs, und nicht einmal Maos China interessierte sich so richtig dafür. Als Portugal in den 80`ern seinen Außenposten an die Volksrepublik zurückgeben wollte, winkten die Machthaber in Peking erstmal ab: zu viele andere Baustellen, zu wenig wirtschaftliche Potenz. Erst 1999, zusammen mit Hongkong, erfolgte die Eingliederung in Form einer Sonderverwaltungszone.

Um dem vernachlässigten Ort eine wirtschaftliche Grundlage zu geben, erlaubte Peking danach dort das Glücksspiel. Megakasinos entstanden, auch als Geldwaschmaschine für korrupte Kader der kommunistischen Partei, wie glaubhaft kolportiert wird.

Darüber hinaus hat Macao eine schön restaurierte Innenstadt, in der man sich annähernd wie in der Baixa Lissabons fühlt, Touristenmassen inclusive. Die besuchen Macao gerne, ist es doch deutlich billiger dort als in Hongkong und dazu noch europäisch-pittoresker.

Als Tagestour von Hongkong aus ist Macao mit der Highspeed-Fähre einfach zu erreichen. Reisepaß nicht vergessen!




Fortaleza Sao Paulo do Monte


Drosselgassen-Feeling: Touristenmassen in einer Seitenstraße Macaos




Das Wahrzeichen Macaos schlechthin, die Fassade Ruinas de Sao Paulo



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